Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt, Mitherausgeber der Wochenzeitung DIE ZEIT,
? 10.November 2015
Die Gefahr eines weltweit religiös motivierten Zusammenstoßes unterschiedlicher Kulturen (clash of civilizations) besteht auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dabei vermischen sich oftmals die Empörung über Armut und Neid auf den Wohlstand anderer mit religiösen Herrschaftsmotiven; religiöse Sendungsmotive vermischen sich mit exzessiven Herrschaftsmotiven. Die abwägenden und mäßigenden Stimmen der Vernunft haben es schwer, Gehör zu finden. Ein Appell an die Vernunft des einzelnen kann oftmals überhaupt nicht gehört werden.
Dergleichen gibt es im Verhältnis zwischen Hinduismus und Islam, so zwischen Islam und Judentum, so zwischen Christentum und Islam; und man kann nicht sicher sein, daß etwa die mörderische Feindschaft von Christen gegenüber dem Judentum mit Hitler endgültig untergegangen ist. Eine besondere Tragödie ist in der Tatsache begründet, daß die allermeisten Gläubigen der drei abrahamischen Weltreligionen voneinander nichts wissen. Sie haben über die gemeinsamen Wurzeln nichts erfahren, nichts über die vielen Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen der drei heiligen Bücher: Thora, Neues Testament und Koran. Rabbiner, Priester, Pastoren und Bischöfe, Mullahs, Imame und Ayatollahs haben den gläubigen Laien dieses Wissen weitestgehend vorenthalten. Sie haben uns im Gegenteil vielfältig gelehrt, über die anderen Religionen ablehnend und sogar abfällig zu denken.
Wer wirklich Frieden zwischen den Menschen will, der muß religiöse Toleranz und Respekt predigen. Respekt gegenüber der Religion des anderen setzt jedoch ein Minimum an Kenntnis voraus. Ich bin überzeugt, daß – über die drei abrahamischen Religionen hinaus – ebenso der Hinduismus, der Buddhismus oder der Shintoismus gleichen Anspruch auf Respekt und Toleranz haben.
Das Projekt “Religionen-entdecken” versucht, dem Rechnung zu tragen. Jugendliche und Kinder, aber natürlich auch Erwachsene können Kenntnisse erlangen über die Werte und Verhaltensweisen Andersgläubiger. Damit legt das Projekt bewusst den Grundstein für ein in Zukunft hoffentlich besseres Verständnis verschiedengläubiger Menschen, für gegenseitigen Respekt und gegenseitige Toleranz im Interesse einer friedlicheren Welt. Das sollten wir alle unterstützen.
Helmut Schmidt, 5. April 2013